Littleton, Erfurt, Emsdetten: Amokläufe oder School Shootings?
von Julia Schmeichel

"Das Massaker von Erfurt"[1], "Der verhinderte Massenmord von Emsdetten"[2], "Amok - Der Lauf der Männlichkeit"[3]: Zielgerichtete Mehrfachtötungen durch Jugendliche an Schulen wie in Erfurt und Emsdetten werden von deutschen Journalisten und Wissenschaftlern bevorzugt als "Amokläufe", "Massenmorde" und "Massaker" bezeichnet.
Doch ist es wissenschaftlich haltbar, Robert Steinhäuser und Bastian Bosse als Amokläufer zu bezeichnen?
Robertz, Lehrbeauftragter am Institut für Kriminologische Sozialforschung in Hamburg, verneint diese These und plädiert dafür, stattdessen den Begriff des School Shootings zu nutzen. Dieser werde in angloamerikanischen Ländern sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch in der Berichterstattung zur Beschreibung von zielgerichteten Mehrfachtötungen durch Jugendliche an Schulen genutzt.[4]
Im Folgenden soll es darum gehen, zu überprüfen, ob es wissenschaftlich haltbar ist, Vorfälle wie in Littleton, Erfurt und Emsdetten als Amokläufe zu bezeichnen oder ob der Begriff des School Shootings dem des Amoks vorzuziehen ist. Dazu soll zunächst das Phänomen des individuellen Amoks im europäisch-amerikanischen Kulturraum näher beschrieben werden, um im Anschluss daran zu überprüfen, inwiefern die Charakteristika des Amoklaufs auf die Vorfälle in Littleton, Erfurt und Emsdetten zutreffen oder sie verfehlen.
Da sich Wissenschaftler bei der Analyse des Phänomens Amok zum grössten Teil auf Berichte internationaler und nationaler Zeitungen, Polizeiberichte und Gerichtsakten stützen und die Tötungsform Amok extrem selten auftritt (Einjahresprävalenz von 0,03:100 000 bei Männern und 0,002:100 000 bei Frauen)[5], basieren die Studien zu dem Thema entweder auf Einzelfallanalysen oder Auswertungen geringer Stichprobengrössen, die vor allem deskriptiver und retrospektiver Natur sind und nur eine begrenzte Generalisierung zulassen.

So untersucht Weilbach in seiner Studie "Aktionsmacht Amok"[6] die Amokläufe in St. Gallen (24.11.1994) und Zug (27.9.2001) anhand ausführlicher Einzelfalluntersuchungen und beachtetet dabei die Komplexität und Besonderheit der Einzelfälle sowie die Innenperspektive der Täter, umgenauere und tief greifendere Erklärungsansätze hinsichtlich der Tatentstehung und -entwicklung liefern zu können.
Schmidtke u.a.[7], Adler[8] und Sehle[9] hingegen werten in ihren Studien durchschnittlich 143 Amoktaten aus den Jahren 1980 bis 2001 aus, um statistische Angaben über die Tötungsform Amok wie die Waffennutzung, die Tötungsrate und die Tatplanung zu erhalten. Anders als Einzelfallanalysen sind die Studien dabei nicht in der Lage, dichte Ursachenbeschreibungen zu liefern, doch vermögen sie es, allgemeine Angaben zu den Taten und dem soziodemographischen Hintergrund der Täter zu machen.
Da sich die Ergebnisse der quantitativen Studien weitestgehend decken, die Einzellfallstudien jedoch unterschiedliche Erklärungsansätze liefern und ein "die verschiedenen Aspekte integrierendes Modell" für die Erklärungsansätze noch aussteht[10], soll es im weiteren darum gehen, Amok anhand quantitativer Auswertungen zu definieren.
Amoktaten treten entweder in der eigenen Wohnung und/oder in öffentlichen Plätzen und Institutionen auf und werden fast ausschliesslich von Männern begangen, die durchschnittlich 34,8 ± 12 Jahre alt sind.[11] Der Amoklauf dauert dabei in den meisten Fällen weniger als zwei Stunden (73%) und erfordert durchschnittlich 5,3 Tote und 4,7 Verletzte.[12] In 44% der Taten sind die Opfer ausschliesslich Bekannte und/oder Familienmitglieder, in 28% Familienmitglieder und/oder Bekannte sowie Fremde und in 28% nur Fremde.[13] Weiterhin nutzen 35% der Täter eine Waffe, die zufällig greifbar ist und 65% eine vorbereitete bzw. nicht zufällig verfügbare Waffe.



Diese Angaben decken sich weitgehend mit der geringen Latenzzeit, das heisst dem Zeitraum zwischen Konflikt und Tat: So führt der auslösende Konflikt in der Hälfte der Fälle unmittelbar zur Tat, während die Zeit zwischen Konflikt und Tat in 31% der Fälle mehrere Stunden bis zur vier Wochen beträgt und in 12% einen Monat überschreitet.[14] Etwa die Hälfte der Amoktaten können somit als "impulsiv-raptusartige"[15] Taten verstanden werden, die unmittelbar zum Konflikt führen und eine nicht vorbereitete Waffe erforderlich machen wie Gebrauchsgegenstände (22%) oder Autos. Ferner werden einzelne Schusswaffen (50%), Panzer, Messer, Hämmer und Schwerter (17%) und ganze "Waffenarsenale" (10%) als Waffe genutzt.



Der Amoklauf findet schliesslich in der Hälfte der Fälle sein Ende darin, dass der Täter festgenommen wird, dass der Täter Suizid begeht (33,5%) und dass der Täter von der Polizei erschossen wird (6,6%).[16] Weitere Charakteristika des Amoks wie der Familienstand oder der Beruf des Täters können leider nicht herausgearbeitet werden, da das von den Wissenschaftern genutzte Datenmaterial nur in sehr wenigen Fällen Informationen zu diesen Angaben liefert.[17]
Amok kann dementsprechend als Tötung(-sversuch) "ohne Abkühlungsperiode"[18] (cooling of period) gegen fremde und/oder bekannte Personen verstanden werden, welche(r) eine Latenzzeit von mehr als einem Monat in den meisten Fällen nicht überschreitet. Als Abkühlungsperiode wird dabei "eine emotional-kognitive Beruhigung und Ablenkung des Täters"[19] verstanden, wie sie beim Serienmord zwischen den einzelnen Taten auftritt. Weiterhin sind Amokläufe nicht in allen Fällen als erweiterte Suizide, "homicide-suicide" oder impulsiv-raptusartige Taten zu kennzeichnen.

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[1] http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,245253,00.html, 22.02.2008, 23:31.
[2]http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,449622,00.html, 22.02.2008, 23:09.
[3]Lübbert, Monika, Amok. Der Lauf der Männlichkeit, Frankfurt 2002.
[4]Vgl. Robertz, Frank J., School Shootings. über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche, Frankfurt 2004, S.19f.
[5]Vgl. Adler, Lothar, Amok. Eine Studie, München 2000, S. 92; Zum Vergleich: Homicide-Suicide (Tötungen mit anschliessender Selbsttötung) haben eine Einjahresprävalenz von 0,2-0,3: 100 000, vgl. http://rpss23.psychologie.uni-regensburg.de/download/lehre/ss06/32035/toetung.pdf.
[6]Weilbach, Karl, Aktionsmacht Amok. Eine kriminologische Fallstudie, Münster 2004.
[7]Schmidtke, A. u. a., Imitation von Amok und Amok-Suizid, in: Wolfersdorf, M., Wedler, H. (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok, Regensburg 2002.
[8]Adler, Amok.
[9]Sehle,Sven, "Zum Phänomen Amok", Diplomarbeit, FHÖV Hildesheim 1999.
[10]http://ifb.bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/ifb.bildung- rp.de/Themen /Krisenintervention/Hoffmann_Amok, 27.02.2008, 19:27.
[11]Vgl. Adler, Amok, S. 54.
[12]Vgl. http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Amok, 28.02.2008, 21:12.
[13]Vgl. Schmidtke, Imitation von Amok.
[14]Vgl. Adler, Amok, S. 61; S. 64f.
[15]Adler, Amok, S. 51.
[16]Vgl. Adler, Amok, S. 61; S. 81-85.
[17]Vgl. Schmidtke, Imitation von Amok.
[18]http://ifb.bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/ifb.bildung- rp.de/Themen /Krisenintervention/Hoffmann_Amok, 28.02.2008, 21:19.
.pdf, 26.02.2008, 13:24.
[19]Robertz, School Shootings, S. 17.